Mein lieber Thamiam, du bist zurückgegangen ins Land deiner Seele und wahrscheinlich muss ich mir um dich keine Sorgen machen. Die Seelen sollen glücklich sein dort, habe ich gehört.
Meine Trauer um dich jedoch bleibt durch die hier geschilderten Ereignisse und weil meine Freund*innen über halb Europa verteilt leben, meistens eine einsame und oft vor Fassungslosigkeit sprachlose und gerade deshalb möchte ich ein paar Erinnerungen teilen, von denen ich ursprünglich stark gekürzt an deiner Abschiedszeremonie hatte erzählen wollen. Vielleicht vermögen sie den Schmerz ein bisschen zu lindern.
Als ich dich das erste Mal sah, noch über die Nabelschnur mit Mama J. verbunden, war da ein tiefes Erkennen. Spontan sagte ich zu dir: „Ach, du bist das.“ Als seien wir uns schon oft begegnet. Dieses Gefühl ging auch nie verloren und ist so stark wie vor 22 Jahren.
Ich denke daran, wie du als winziges Baby gelächelt und dabei zu einer Stelle über meinem Kopf geschaut hast und wie ich mich oft
gefragt habe, worüber du wohl lächelst, was du wohl siehst.
Ich möchte erinnern an den Schalk, den du in unsere Welt brachtest. An das glückselige Funkeln in deinen Augen, als du mit 17 Monaten im Sonnenbad das erste Mal an einer Schoggiglacé schlecktest. Als ob der Himmel dir aufgegangen wäre. Wie du mit 10 Monaten auf das Terrarium deutetest, lachtest und „Ange“ (Schlange) riefst.
Ich will an dich erinnern, wie du auf der Pruntrutermatte vorsichtig und furchtlos die hohe Leiter zur alten Rutsche hochgeklettert bist, barfuss auch im Winter und deine Zehen als Klammer einsetztest dich zu halten. Mit mir hinter dir, die nur da sein musste. Wie du mit ca. 18 Monaten rückwärts die Treppe heruntergeklettert bist, in meine Wohnung kamst und das Adagio von Mozarts Klarinettenkonzert A-dur KV 622 hören wolltest. Wieder und wieder. Wie du ein paar Wochen oder wenige Monate später erzähltest, du hättest mal eine Harfe besessen. Die sei dir ins Wasser gefallen. Und ich dachte, vielleicht stimmt das ja doch mit der Reinkarnation.
Wie du zur selben Zeit Rüebli in Scheibchen zu schneiden lerntest und das überhaupt kein Problem war. Du konntest mit dem Messer umgehen. Wie ich dir, als du vier warst, ein kleines Taschenmesser schenkte und wie ich es das nächste Mal weggesperrt in einer Schublade vorfand. Du dürfest es erst benutzen, wenn du sieben seiest, meinte Mama J. Jetzt könnest du das noch nicht.
Wie sehr du Salbeipastillen liebtest. Ich hielt immer einen kleinen Finger hoch und sagte: „Eins.“ Eines Tages, ich weiss nicht mehr genau, im 22. oder 23. Monat vielleicht, standest du vor mir, ich hielt den Finger in die Luft, sagte: „Eins“ und von dir kam mit einem schelmischbreiten Lächeln: „Zwöi, drü.“ Wie wir zusammen lachten.
Erinnern will ich den ersten und einzigen erlebten Wutanfall, als du mit zwei Jahren und drei Monaten in der Badi keine zweite Glacé bekamst und es geschafft hast, eine Stunde lang zu brüllen.
Und die Angst, die du hattest, als du einmal am ersten Abend in den Ferien bei mir in Bayern oben im Bett lagst und mich so leise riefst, dass ich dich erst nicht hören konnte. Obwohl das Fenster offen war und ich darunter sass. Ich konnte dich erst hören, als du weintest. Du habest dich nicht getraut, lauter zu rufen. Wie ich dich beruhigen musste, dass es ok ist, wenn ein Kind Angst hat und dich ermunterte, laut nach mir zu rufen.
Wie J. mal auf der Reise zu mir in St. Gallen ausgestiegen war um am Brünnchen Wasser zu holen und der Zug mit dir alleine und dem Gepäck abgefahren war. Es gelang die Kondukteure zu informieren, die dich bei St. Margrethen aus dem Zug begleiteten. Um Mitternacht fuhr ich nach Mühldorf um euch abzuholen. Abgesehen davon, dass ihr viel später ankamt, war weiter nichts passiert.
Wie du auf die Frage, was du gemacht hättest, wenn es nicht gelungen wäre, die Zugbegleiter zu informieren, geantwortet hast, du wärest einfach nach München weitergefahren und hättest da gesagt, jemand solle dir helfen zu mir zu kommen.
Mit viel Freude denke ich daran, wie ich dir mit meiner "antiquierten" Methode Dreisätze zu berechnen helfen konnte. Du hast offensichtlich nur einen anderen Zugang gebraucht um zu verstehen und warst glücklich damit.
Ich entsinne mich deiner Begeisterung über die Löwenburg im Bergpark Kassel, die so intensiv rüberkam, dass J. noch drei Tage nach deinem Tod „das verdammte Schloss“ rief und dazu weinte und lachte. Und deiner Freude an den jungen Kätzchen, den Kindern dreier Generationen Katzenmamas aus Bayern, wo ich zeitweise lebte. Merle und Wölkchen, Lucia Sonnenscheinchen und Tirili.
Und dass etwas in deinem bezaubernden Wesen Katzen veranlasste, mit sich machen zu lassen, was du wolltest. Gufalo, der Tessiner Kater liebte dich ebenso wie Bella Luna, Tirili, Merle, Wölkchen, Lucia Sonnenscheinchen, Miró, Frau Salander
Gerade fällt mir ein, wie wir im Berner Oberland im Juli 2009 auf einer Wanderung in einer Alpkäserei ein riesiges Stück Käse kauften und gleich davon assen. Und wie schlecht uns danach war. Und wie wir trotzdem noch Monate später einander daran erinnerten. Nur um schaudernd „iiiiiiiiiiiiiiii“ rufen und darüber lachen zu können.
Und wie wir tags darauf mit J. zu den Trümmelbachfällen bei Lauterbrunnen fuhren.
Du hast nie aufgegeben mich miteinzubeziehen, obwohl das ab 2012 nicht mehr gewünscht oder verstanden wurde. Hast mich trotzdem eingeladen zum Geburtstag oder zu Aufführungen. Du hast dich gewehrt, wenn andere dir einreden wollten, du könnest nicht zwei Mütter haben. Dafür bin ich dir unendlich dankbar. Mögest du ein Vorbild sein für andere.
Ich erinnere mich gerne an die Gelegenheiten, als wir zusammen die ersten Sofalesungen besuchten und wie ich mich freute, als ich am 17. Januar mal alleine hinging und dich dort mit einem Freund antraf.
Und ich entsinne mich deiner als des jungen Mannes, der sechs Tage vor Ausbruch der schweren, gemeinen Krankheit, als wir unsere Geburtstage nachfeierten, auf der Bank unter unserem Lieblingswalnussbaum neben dem Rapsfeld sass und von seinen Lebensplänen erzählte. Du wolltest dich in diesem Jahr für die Aufnahmeprüfung an die Musikakademie vorbereiten. Sänger wolltest du sein.
Es tut so unaussprechlich weh, dir nicht mehr begegnen zu können. Dich nicht anrufen zu können. Dich verpasst zu haben, als wir in deinen letzten Tagen versuchten,
einander zu erreichen. Noch ist es nicht vorbei mit den kleinen oder grösseren Handlungen, bei denen ich aufmerke: das erste Mal ohne dich. Das erste Mal nach deinem Tod. In der Küche hängt noch
der Gutschein für einen Kinobesuch, den du mir schenktest. Ich bringe es noch nicht über mich, ihn zu nutzen. Es ist ein Stück von dir, das ich noch nicht hergeben kann.
Es tut weh und ich bin dankbar, dass ich ein Stück Weg mit dir gehen durfte. Es kling wie ein Klischee, aber so ist es: Du lebst weiter in meinem Herzen, meine Seele ist mit dir. Danke Thamiam. Es war schön mit dir.
For English speaking people: I'm really sorry, but at the moment, I can't translate this for you. Hope, google or other translation programs will do.
Diesen Text hätte ich gerne (stark gekürzt auf drei Minuten) für mich und ihn und für die trauernden Menschen bei Thamiams Abschiedszeremonie vorgelesen. Nachdem ich erst darum gebeten worden war, etwas zu sagen, wurde es mir ein paar Tage vor der Zeremonie verweigert. Die um Thamiam trauernden Menschen, die mich als Co-Mama nicht mehr kennengelernt hatten, nachdem ich mich von Mama J. getrennt hatte, sollten offenbar nicht von mir und/oder von ihrer lesbischen Vergangenheit wissen.