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Der graue Hügel

Als die Sonne über dem Kamm erschien, brach sich das Licht in den Tautropfen im kurzen Gras und liess ihre Welt unversehens schimmern und funkeln. Sie beugte sich lächelnd über den Brunnen, um das Gesicht zu waschen. Da entdeckte sie das Geflecht aus zahllosen Spinnenfäden, das den Grasspitzen entlang über die Erde gewoben war. Unwillkürlich holte sie tief Luft. Staunend wurde sie der wilden Freude gewahr, die in ihr hochstieg. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Endlich. Endlich konnte sie sie wieder fühlen. Und mit ihr das Verlangen, barfuss über die Weide zu laufen, die Arme auszubreiten, die Füsse ins kalte Bächlein zu tauchen und hinterher das belebende Prickeln zu geniessen. Aufrecht zu gehen. Ohne Angst, dass die Freude jäh wieder aus ihrem Dasein gewischt werden würde.

 

Sie hielt den Kopf unter den kühlen Wasserstrahl und fuhr mit beiden Händen kräftig rubbelnd über Wangen und Stirn. Vorsichtig, um den vom Steine schichten noch leicht schmerzenden Rücken zu schonen, richtete sie sich wieder auf und schaute hoch zu dem markanten Felsvorsprung, wo er sie gestern nachmittag überrascht hatte.

 

Sie war dabei gewesen, eine ihrer letzten Arbeiten in diesem Herbst auszuführen, hatte den Zaun auf dem Grat, den sie im Frühsommer für die Ziegen gepflockt hatte, wieder abgebaut. Der Pfad war an dieser Stelle besonders schmal. Der ehemalige Nachbar, ein rüpelhafter Taxifahrer mit psychopathischen Zügen, der ihr schon lange nachstellte und ihr das Leben schwer machte, hatte sich hinter einer Wegkrümmung versteckt gehalten und hatte sie, mit dem Zeigefinger unter ihrer Nase herumfuchtelnd, einmal mehr übel beschimpft. Er wisse, was für eine sie sei. Eine Drecksau sei sie. Er habe es schon gedacht, als er sie das erste Mal gesehen habe. Und er habe recht gehabt. Eine Schlampe, eine Lügnerin sei sie. Und er sorge schon dafür, dass am neuen Ort alle die Wahrheit über sie erführen.

 

Während er diese Wortsalve auf sie hinunterknallen liess, fühlte sie wie sie versteinerte. Wie damals, als er mit seinem Taxi geradewegs auf sie zugefahren und im letzten Moment ausgewichen und im Abstand zweier Handlängen an ihr vorbei den Hügel hinunter gerollt war.

 

Als dieser infame Mensch ihr gestern heimlich nachgestiegen war und sie erneut angegriffen hatte, hätte sie sich beinahe an jenen Ort zurückgezogen, den sie so gut kannte, jenen schwarzen Punkt im All, an den sie sich als kleines Mädchen jeweils in Sicherheit gebracht hatte. Etwas hatte sie davon abgehalten. Wie aus einem Alptraum heraus erwachend hatte sie sich schlagartig erinnert. Erst vor ein paar Jahren, es erschien ihr so weit weg wie das Leben einer Anderen, hatte doch auch sie gelernt sich zu wehren.

 

Sie hatte wahrgenommen, wie aus dem reinen Erinnern ein Gefühl wurde, wie Empörung aus ihrem reifen Frauenkörper wuchs wie der Fruchtkörper eines Pilzes aus dem Geflecht seines Myzels. Empörung, die die ganze Zeit über schon dagewesen sein musste. Die sich nur nie hatte Luft verschaffen können und sich jetzt Bahn brach. Sie fühlte mit grimmig eisigkaltem Zorn, wie sich an ihrem ganzen Körper imaginäre Stacheln aufstellten, sie sah ihre Kraft wie eine orangefarbene Kugel um sich herum auflodern. Goldene Pünktchen tanzten darin und Blitze zuckten hierhin und dorthin.

 

Sie war explodiert. Hatte ihm, der mit dem Vorsatz sie einzuschüchtern viel zu nahe an sie herangetreten war, ohne weiteres Zögern mit einem Aufschrei beide angespannten Handflächen gegen den Brustkorb geschlagen.

 

Sekundenbruchteile zuvor hatte sie aufflackerndes Erstaunen in seinen Augen erkennen können. Er hatte noch begriffen, dass gleich alles anders werden würde, als er es sich ausgemalt hatte. Doch zu spät. Zu sicher war er sich gewesen. Hatte in seiner tumben Boshaftigkeit und Phantasielosigkeit nicht damit gerechnet, dass es dieses Mal anders laufen könnte. Dass sie seit seinen letzten Überfällen einen heilsamen Prozess durchlaufen hatte. Schmerzhaft zwar, aber unumkehrbar.

 

Es war ganz leicht gewesen. Ihre Hände hatten seine Brust noch nicht berührt, als er bereits zurückwich und kaum merklich stolperte. Vielleicht, ein sehr, sehr kleines Vielleicht, hätte sie die Bewegung noch nach oben durchziehen können. Trotzdem hätte sie ihn vermutlich gestreift. Er hatte ja kaum dreissig Zentimeter vor ihr gestanden. Viel zu nahe. Viel zu nahe.

 

Fassungslos schnappte er nach Luft. Erkannte, was ihm blühte. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Mehr nicht. Damit verschwand er vor ihren Augen. Sie hatte die dumpfen Aufschläge noch eine Zeitlang gehört. Geröll, das kurz in Bewegung geraten war. Danach war es wieder still geworden. Als wäre nichts passiert. Nichts war passiert.

 

Später, als sie wieder frei atmen konnte, war sie zu der Stelle, wo er lag, hinunter gestiegen und hatte sich vergewissert, dass er sie nicht mehr würde verfolgen können. Sie hatte ihn mit grossen Steinen bedeckt und sie so geschichtet, dass es wie ein natürlich entstandener Haufen aussah. Sie war zurückgeklettert zum Grat und gegen Westen zur Sommeralp abgestiegen. Dort hatte sie geweint. Im Gras. Auf dem Bauch liegend. Lange. Lange. Um sich. Um die verlorene Zeit und Energie und um ihre Unschuld. Bis sie leer war.

 

Abends hatte sie auf der Weide ein Feuer gemacht. In der glühenden Kohle hatte sie Kartoffeln und an einem Stecken Schlangenbrot für den nächsten Morgen gebacken. Nach dem Essen hatte sie in die Glut starrend nach Figuren geschaut. Ein Krokodil und drei alte, runzlige Köpfe waren ihr aufgefallen. Die Gesichter zweier alter Frauen und das eines alten Mannes. Das erste Mal seit Langem war sie früh schlafen gegangen statt die halbe Nacht schreibend oder vor der Hütte sitzend in die Dunkelheit horchend zu durchwachen.

Wenn die Farbe gelb ausgeht, mit was werden wir unser Brot backen?

Wir werden unser Brot mit Indigo backen. Wir werden Maisbrot backen. Hartknuspriges. Blaues. Maisbrot. Und trauern. Trauern darüber, dass Mütter fragen müssen, wo ihre Kinder geblieben sind, dass die Liebste ihren Liebsten nicht mehr fühlen kann; dass der Vater niemals mehr seiner starken Tochter auf die Schultern klopfen und seinen nachdenklichen Sohn nie mehr in seine Arme schliessen kann; darüber, dass der kleine Junge seine Mutter nur von einem eingefrorenen Bild kennt, die Cousine mit ihrer Cousine nicht mehr lachend über die staubige Landstrasse hüpft, um drüben im Schatten des Kiosks sitzend gemeinsam an einem Eis lutschend über die Jungen herzuziehen.

Und dann wird die Nacht hereinbrechen. Viele Male.

Und dann, eines Tages, nach unendlich langer Zeit, werden wir Brot backen. Gelb, mit einer zarten goldbraunen Kruste. Und, wie wir es seither immer tun, die Kerzen anzünden für unsere verlorenen Hoffnungen.

(M)eine Antwort auf Pablo Nerudas Frage: Wenn die Farbe gelb ausgeht, mit was werden wir unser Brot backen?

Ein kleines Wesen

Eingesperrt ein kleiner Körper in einem Keller ohne Licht. Sitzend auf den kühlen Kieselsteinen, die den Naturboden bedecken. Die schwache Glühbirne wird eingeschaltet. Der junge Mann betritt den Raum.

Gleich wird er an dem Kellerabteil vorbeigehen. Doch er stutzt. Hält inne. Starrt durch die Zwischenräume der rohen Holzlatten auf die kleine Gestalt, die ihre Stirn auf die Knie gelegt hat; mit beiden Armen ihre Beine umfasst hält.

 „Mon Dieu“, entfährt es ihm. „Was ist denn das! Macht deine Mère mit dir solche Sachen?“

Fassungslosigkeit lässt seine Stimme leise werden, fast unhörbar. Doch die kleine Gestalt hat verstanden. Sie schaut zu ihm hoch, fühlt die Tränen, die jetzt über ihre Wangen und auf die Knie kullern.

Ihr Unglück kann dieser junge Mann nicht ermessen, doch mit Sicherheit weiss sie jetzt, dass nicht alle Menschen gutheissen, was mit ihr geschieht. Und ein Gefühl als würde sie draussen über die Wiese hüpfen überkommt sie, eine Leichtigkeit und die Gewissheit, dass sie doch nicht selber schuld ist daran.

Kontaktanzeige

Paola packte die Tischkante mit beiden Händen und schob ihren mächtigen Körper langsam vom Stuhl hoch. Sie lehnte sich über den Tisch, stemmte die Fäuste auf die Tischplatte und begann mit bedrohlich leiser Stimme: „ Du sagtest, du wollest keine Kinder.“ „Du sagtest, diese ganze Nestbauerei entspreche dir nicht.“ „Und nun das.“ 

Max, der mit dem Stuhl bereits nach hinten gerutscht war, schaute sie verstört an. Zögernd: „Aber, das habe ich doch nie gesagt.“ 

„Hast du wohl! Soll ich dir deine Annonce vorlesen? Eierlegende Wollmilchsau! Wollest du nicht! Steht da!“ 

„Aber, aber“, stammelte er, „damit meinte ich doch, dass ich von meiner Frau keine Kunststücke erwarten würde. Mit dieser Formulierung wollte ich doch nur erreichen, dass eine Frau sich nicht überfordert fühlt. Dass sie weiss, dass sie keine omnipotente Traumfrau zu sein braucht. Du hast das, glaube ich, missverstanden.“ 

Sie starrte ihn ungläubig an und brach in dröhnendes Lachen aus. Ihr Körper wogte. Es schüttelte sie. Als sie sich beruhigt hatte, setzte sie sich auf den Stuhl, der ihm am nächsten war, berührte ihn leicht am Unterarm und wischte sich kopfschüttelnd die Tränen aus den Augen: „ Und das mir, der Philologin.“

Verloren

Leicht amüsiert betrachtete sie das übernächtigte Gesicht der Frau vor sich und strich mit beiden Händen über die Stoppelhaare. Gegen den Strich. So dass feine Was­sertröpfchen ihr Spiegelgesicht trafen.

 

Laut sagte sie: „Auch wenn ich dich nicht kenne, so wasche ich dich doch“, beugte sich über das Becken unter dem Spiegel und bewegte ihre Hand unter dem Wasserstrahl in Form einer liegenden Acht über Wangen und Stirn. Das kalte Wasser erfrischte. Sie richtete sich auf, tupfte sich das Gesicht mit Papier aus dem Spender trocken und verliess den Waschraum.

 

Draussen stutzte sie, schaute sich suchend um, ging in die eine, dann in die andere Richtung und blieb schliesslich ungläubig stehen. Der Bus war weg. Das war sicher. So gross war dieser Parkplatz nicht, als dass sie ihn hätte übersehen können. Ah, da stand der silbergraue Kombi. Die Frau, die davor auf einer Decke im Gras sass, war schon dagewesen, als sie angekommen waren. Sie würde sie fragen. Bestimmt hatte sie den Bus bemerkt, als Maria ihn weg gefahren hatte.

 

„Entschuldigen Sie! Ich kann meine Partnerin nirgends sehen. Wir sind vor etwa zehn Minuten mit dem roten VW-Bus angekommen. Haben sie vielleicht bemerkt, in welche Richtung sie weg gefahren ist? Möglicherweise wollte sie den Bus in der Nähe im Schatten parken.“

 

Die Frau musterte sie prüfend und antwortete: „Ein roter Bus? Ich habe keinen roten Bus gesehen.“

 

„Wir hatten direkt neben ihnen geparkt!“

 

„Ich sagte Ihnen schon: Ich habe keinen roten Bus gesehen.“

 

„Aber das ist ja merkwürdig! Sie haben uns doch gegrüsst, als wir ausgestiegen sind!“

 

Die Frau hatte sich nun erhoben und stand mit verschränkten Armen vor ihr. „Herzchen, sind Sie verwirrt oder tun Sie nur so? Ich sah, wie Sie zu Fuss aus dem Wäldchen dort ka­men und ins Klohäuschen gingen. Jetzt kommen Sie raus und behaupten, in einem ro­ten Bus und mit einer Partnerin angekommen zu sein. Was soll das? Wollen Sie mich veräp­peln?“

 

Unsicher lächelnd blickte sie an der Fremden, die sie Stirn runzelnd betrachtete, vor­bei. Ihr Blick verlor sich in dem schmalen, hauptsächlich von Birken und Buchen bestande­nen Wäldchen. Sie stellte sich vor, wie sie aus diesem Wäldchen heraus kam und zum Klo-Häuschen ging. Nur noch leicht nahm sie den Geruch frisch gemähten Grases wahr, hörte den Lärm vorbei fahrender Autos als leises Rauschen.

Der Angst entlang

Er stand ausserhalb des kleinen Dorfes auf einem Felsvorsprung und schaute auf die Schiene hinab, die nach Hampton im Westen und Durby nach Südwesten führte. Kein Lüftchen regte sich. Sogar den Spatzen, die sonst immer in den Haselbüschen lärmten, war es zu heiss. Einzig die Pfiffe eines in grosser Höhe segelnden Mäusebussards durchschnitten ab und zu die nachmittägliche Stille. Obwohl er noch einmal geduscht hatte, bevor er nach draussen gegangen war, klebten Hemd und Shorts schon wieder an seiner Haut. Den Dampf der herankommenden Lok konnte er in der Ferne bereits als eine flach durch das Tal ziehende grauweisse Fahne ausmachen. Er packte die Liane fester. Nyamakuta hatte gesagt, da wo die Angst sei, da gehe es entlang. Und Nyamakuta hatte ihn noch nie angelogen.

Aber sass seine Angst wirklich hier? Auf diesem Felsvorsprung über der Schiene? Er spürte, wie ihm der Schweiss zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter zu laufen begann. Sein Bauch fühlte sich unversehens wie beim Schulausflug im letzten Jahr an, als er zuviel Traubenzucker gegessen hatte. Seine Beine schienen sich auflösen zu wollen. Nein. Seine Angst sass definitiv nicht hier. Die war eng gebunden an ein pickliges Gesicht über einem stämmigen Oberkörper mit muskelbepackten Armen. Und Beinen, die so schnell und hart treten und schlagen konnten, dass ihm jeweils hören und sehen vergingen. Deshalb stand er jetzt hier und hielt sich an einer olivgrünen Liane fest, als könnte sie ihn bewahren vor allem, was ihm in seinem kurzen Leben bereits zugestossen war und in seinem weiteren zustossen würde. Der Sprung. Nichts würde danach noch so sein, wie es gewesen war.

Dekumatenland

„Wir müssen warten, bis es dunkel ist. Erst dann können wir weiterziehen.“ Sie wandte sich von der Szene, die sie beobachtet hatte, ab. Blinzelte. Die Nachmittagssonne lag schon tief, und sie hatte im Gegenlicht durchs Gebüsch spähen müssen. „Sie werden heute nacht hier bleiben. Ein paar Männer haben angefangen Zelte aufzubauen.“

Ihr neunjähriger Bruder drückte sich an sie und wisperte verängstigt: „Und wo sollen wir bleiben, bis es dunkel ist?“. Gedankenverloren strich sie ihm übers Haar. Dann gab sie sich einen Ruck: „Hm, hier könnte einer uns leicht entdecken, wenn er sich zum Wasserlassen ins Gebüsch schlägt. Wir müssen uns zurückziehen. Leise. Und halt Cinnabar das Maul zu. Er wiehert immer im dümmsten Moment.“

Das Pony schüttelte ungehalten den Kopf, als Aelfric seine Nüstern mit den fast noch zu kleinen Händen umfasste und es gleichzeitig mit Schulterdruck zum Abdrehen bewegte, ging dann aber doch ganz manierlich mit ihm. Vorsichtig trockenen Ästen ausweichend führte er Cinnabar am Rande der Lichtung entlang weg.

Sunngifu folgte ihnen mit den Augen und lauschte noch kurz den hin und her schwirrenden Wortfetzen, dem Wiehern der Pferde und dem Waffengeklirr, dann huschte auch sie davon. Ihr war eingefallen, wo sie sich verstecken konnten, bis die Nacht anbrach.

Als sie Aelfric, der bereits im Wald verschwunden war, eingeholt hatte, erklärte sie ihm ihr Vorhaben. Erst würden sie dem Bach folgend zurückgehen müssen bis zur heiligen Eiche und von da aus ein ganzes Stück den Berg hoch. Als sie vor zwei Jahren mit ihrer Mutter Aethel zu deren Schwester gereist war, hatten sie bei einer Quelle haltgemacht, die sich in der Nähe einer Höhle befand. Zur Not könnten sie auch ein paar Tage dort bleiben. Mit ein bisschen Glück würden sie Eichhörnchen fangen und das Fleisch in einer Suppe mit Kräutern kochen. Aber jetzt dachte sie schon wieder zu weit voraus. Erst mussten sie den Weg sicher zurücklegen. Sie mussten auf der Hut sein. Neben den Soldaten waren auch noch marodierende Banden verzweifelter Bauern unterwegs, die des Krieges und der Brandschatzungen wegen all ihre Habe verloren hatten.

Vision für eine verletzte Frau

Eine verhutzelte Greisin stand vor ihr, neigte sich ihr leicht zu und betrachtete sie voller freundlicher Anteilnahme. Schaute sie genauer hin, vermeinte sie ab und zu das schelmische Antlitz einer jungen Frau zwischen den Runzeln hervorblitzen zu sehen. Die Alte bewegte ihre Lippen, und obwohl kein Laut zu vernehmen war, verstand Myrtha sie doch.

 

„Ich weiss, Liebes, man hat dich verraten, verkauft, vergewaltigt, dich gedemütigt, dir dein Menschsein geraubt. Du und ich, wir können es nicht ungeschehen machen. Doch schliesse nun die Augen und sieh, wie ich dich in der kommenden Zeit sehe.“

 

Myrtha fühlte sich von einer Woge Mitgefühl umhüllt, als läge sie in der warmen Handschale der alten Frau, über sich das schützende Himmelsgewölbe. So, ja, sie seufzte erleichtert, so konnte sie die Augen schliessen und der Stimme der Alten lauschen, die sich wie ein Netz aus klingenden Fäden in ihr ausbreitete.

 

„Sieh dich, wie ich dich sehe:

Du gehst aufrecht und federnd mit beschwingtem Gang; deine Hüften ein sanftes Wiegen;

die Arme pendeln locker.

Den Kopf erhoben blickst du Entgegenkommenden geradewegs in die Augen.

Nicht weil du die Umgebung auf Sicherheit überprüfen willst;

Weil du weisst, du bist ein wertvolles Geschenk für diese Welt.

 

Dein Sein ein lächelndes Willkommen, wenn Menschen dich als ebenbürtig und gleichwertig anerkennen.

Geht ihr zusammen weiter, dann aus freien Stücken.

 

Streng blickst du, wenn sie dich reduzieren, wenn welche dich erneut demütigen wollen,

die Brauen, hoch nach oben gebogen,

berühren sich beinah über der Nasenwurzel.

Leichtfüssig wendest du dich von ihnen ab.

 

Mitfühlend schaust du zu jenen, die dich auf einen Sockel stellen wollen.

Zornig manchmal auch, wenn sie sich selbst kleiner machen, damit du grösser erscheinst.

Du weisst,  sie verbieten sich selbst zu wachsen und zu blühen.

Du nimmst es wahr.

Unerbittlich wirst du, wenn sie dir deswegen beim nächsten Schritt ein Bein stellen.

Du verabschiedest dich. Groll lässt du mit der Zeit verwehen.

 

Hoch erhobenen Hauptes blickst du Entgegenkommenden geradewegs in die Augen.

Biegsam, achtsam und entspannt ziehst du weiter, so wie die Gepardin durch die Steppe streift.

Stolz und frei in deiner Eigenmacht.“

 

Als sie aufwachte fühlte Myrtha die unermessliche Trauer über das erlittene Unrecht und gleichzeitig die Freude über die Bilder der Alten. Die sich wie von allein durch ihr Sein zu bewegen schienen, sich ausbreiteten und Raum gewannen. Dankbarkeit erfüllte sie. Und Zuversicht. Und Stolz. Ja, auch Stolz.

Diese Geschichte entstand zum Thema: "Mehr Stolz, ihr Frauen." Es ist ein Zitat aus einem Essay  Hedwig Dohms.

An Unterkühlung starb in Gurtweil Christine P. (15), die aus einem Erziehungsheim ausgerissen war

Christine und ich lebten seit einigen, das heisst, eigentlich seit genau sechs Jahren zusammen in diesem Heim. Alles, was wir uns vornahmen, erledigten wir gemeinsam. Keine unternahm irgendetwas, ohne die andere vorher ins Vertrauen gezogen zu haben. So rissen wir auch einige Male zusammen aus. Ich möchte Ihnen hier erzählen, wie es dazu kam, dass wir uns so sehr schätzen lernten.

Christine lebte, bis sie acht Jahre zählte, bei ihrer Mutter. Der Vater war tot, bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Vier Jahre später heiratete Frau Walthers ein zweites Mal. Kurz darauf wurden dem neuen Ehepaar zwei Kinder geboren. Für Christine war nun kein Platz mehr in der engen, viel zu kleinen Wohnung. Ihre Eltern steckten sie in ein Erziehungsheim, welches von Nonnen geleitet wurde. Als wir uns später kennenlernten, erzählte sie mir, sie sei damals das erste Mal fortgelaufen. Sie wollte nach Hause, zu ihrer Mutter, weil sie glaubte, im Elternhaus Liebe und Wärme zu finden. Ja, das ist es, was uns allen fehlt, Christine und mir, den Heimkindern - Liebe und Wärme, Nestwärme!

Zurück zu Christine, sie hatte sich geirrt, unvorstellbar geirrt. Ihre Eltern brachten sie damals gleich wieder ins Heim zurück. Seither hatte sie ihre Mutter und den Stiefvater nur noch einmal gesehen. - In einem abgeschlossenen Raum eines anderen Heimes.

Und dann, vor sechs Jahren, trafen wir beide gleichzeitig hier ein. Schon nur aus dem Grund, weil wir die berüchtigt-berühmten Neulinge waren, schlossen wir uns einander an. Berüchtigt-berühmt deswegen, weil jedes Kind bereits von unser beider bewegtem Leben erfahren hatte. (Für die Heimleiter stelle ich ein gleiches Problem dar wie Christine.)

Nun zu den Ereignissen, welche sich vor zwei Wochen in unserem Zimmer abspielten.

Um 21 Uhr werden alle Türen des Heimes abgeschlossen. Wenn nun eine etwas später eintrifft, läutet sie, und sie wird ohne Aufhebens eingelassen. Kommt eine jedoch vielleicht eine Stunde später zurück, setzt es Prügel ab, an die sie ihr Leben lang denken wird.

Wir, Christine und ich, waren an jenem Abend mit einigen Jungen aus der Nachbarschaft spazieren gegangen und hatten uns in einer kleinen, rauchigen Wirtschaft häuslich niedergelassen, worüber wir die Zeit einfach vergassen. Wir verabschiedeten uns ungefähr zwei Stunden zu spät von den Jungen in sicherer Entfernung des Heimes. Trotzdem muss uns ein Heimleiter gesehen haben. Wir wurden ins Büro der Leiterin gerufen, und dort begann das Theater.

Wir kriegten Prügel, das Normale! Aber dann wurden Namen wie Strassenmädchen, Dirnen und Luder ausgeteilt. Wir waren wütend, beleidigt, gekränkt und das schlimmste, wir waren im Innersten verletzt.

Diese Geschehnisse lösten in uns eine unglaubliche Torschlusspanik aus. Wir gingen zuerst unberührt auf unser Zimmer, weinten uns aus und schmiedeten dann einen hieb- und stichfesten Plan. Wir rechneten: "Wenn uns ein Autofahrer mitnimmt, sind wir bereits an der Grenze, bevor die da unten (die Heimleiter) merken, dass die Zahl der Heimkinder um zwei gesunken ist. Wir wählen am besten den Fluchtweg über den Baum vor unserem Fenster. Über ihn gelangen wir gleich über die Mauer." Gesagt, getan. Wir packten in zwei Taschen die nötigsten Sachen und verschwanden. Alles lief reibungslos ab. An eines jedoch hatten wir nicht gedacht: wir waren müde zum Umfallen. Zweitens: es war eisig kalt, genauso kalt, wie es ist, wenn es in wenigen Stunden zu schneien beginnt. Und es begann sehr bald zu schneien. Zuerst flogen nur einige Flocken umher. Jedoch kurze Zeit später waren die Strassen, Häuser mit Schnee überdeckt. Wir warteten sehnsüchtig, vor Kälte schlotternd auf den Automobilisten, der uns mitnehmen würde. Aber die Strassen waren menschenleer und unsere Hoffnungen sanken immer mehr zusammen.

Hoffnungslos und müde, das ist ein gefährlicher Zustand, wenn die Kälte noch dazugerechnet wird. Das Verlangen nach Schlaf und Wärme wurde wach. Wieder einmal fanden wir keine Wärme. Schlafen! Aber wo?

Nach einigen Stunden anstrengenden Marsches war Christine so weit, dass auch ich sie nicht mehr davon abhalten konnte, sich niederzulegen in den kalten, gefährlich glitzernden Schnee.

Sie schlief gleich ein. Ich setzte mich zu ihr und versuchte, sie warm und mich wach zu halten. Sie warm zu halten, wäre mir sicherlich gelungen, wenn ich das zweite hätte tun können. Ich weiss nicht, wie lange ich schlief. Als ich erwachte lag Christine immer noch neben mir. Aber was war denn los mit ihr? Das Gesicht: weiss wie der Schnee, der sich um uns lagerte. Die Hände: kalt wie der Schnee, der sich ums uns lagerte. Sie war leblos, tot.

 

1972

Miri

„Ja, sie hat mir geschrieben.“, antwortete sie mit krächzender Stimme.

 

Ihr verrunzeltes Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. „Wann war das denn nur? Lassen Sie mich einen Augenblick überlegen.“ Sie schirmte mit ihrer schmalen Hand die Augen ab.

 

„Ach ja, ich erhielt einen Brief in der Woche nach ihrem Geburtstag. Vor einem Monat. Aus  Paris. Warum? Sie macht eine Europareise. Ja, natürlich, ich kann ihn holen und Ihnen vorlesen. Warten Sie einen Moment.“ Sie legte den Hörer auf das hölzerne Stehpult unter dem Wandtelefon und ging in die Stube. Ich hörte das vertraute Geräusch der Esstischschublade. Sie kramte darin herum. Als sie zurückkam fiel mir auf, dass sie etwas zögerlich daher geschlurft kam, als wäre sie nicht sicher, ob sie das Gespräch nochmals aufnehmen wolle.

 

Sie schaute mich an, bedeutete mir zu warten. Dann nahm sie den Hörer wieder auf, hielt sich den dünnen, engbeschriebenen Luftpostpapierbogen nah ans Gesicht und begann zu lesen: „ Liebe Grosi-Mama, weisst du noch, wie ausgeschlossen ich mich letzten Sommer fühlte, weil Greti keine Zeit mehr hatte für mich und ich mit Peter abends nicht mehr Federball spielen konnte? Wie unmöglich ich dieses ganze Geturtel und Getuschel und Geklammere und Gekicher der beiden fand? Ich fühlte mich so im Stich gelassen. Und war froh, als die beiden sich bald schon wieder trennten. Und fühlte mich schlecht, weil ich froh war. Es war  so schlimm. Weisst du noch? Doch jetzt! Jetzt ist es mir auch passiert. Es ist noch ganz neu, und ich kann es gar nicht in Worte fassen. Aber ich weiss jetzt, was die Leute meinen, wenn sie vom siebten Himmel sprechen und von Schmetterlingen im Bauch. Nur fühlt es sich eher an wie Wolke 27. Und die Knie werden weich, wenn ich nur schon an ihn denke. Und ich habe die ganze Zeit weiche Knie, weil ich sowieso nichts anderes mehr denken kann. Und ich könnte den ganzen Tag singen. Ach, Grosi-Mama, ich kann gar nicht normal schreiben. Am liebsten würde ich diese Seite einfach nur bunt bemalen. Dann würde es stimmen. Aber dann wüsstest du ja nicht warum.

 

Gleich sind wir fürs Kino verabredet. Ich muss Schluss machen und bringe den Brief schnell zur Post. Schreib doch bald. Freust du dich?

 

Fühle dich herzlich umarmt von deiner Miri“

 

Sie liess den Bogen sinken. Die Person am anderen Ende der Leitung sprach. Und ich hatte auch weiche Knie bekommen.

 

„Ja, das ist alles. Nein, kein Name. Ja, danach erhielt ich noch eine Ansichtskarte. Das übliche. Schönes Wetter, mir geht’s gut, war im Marais, Mohnkuchen gegessen beim jüdischen Bäcker. Nein, kein Wort von ihm. Ihre Eltern? Nein. Sie hat die letzten fünf Jahre bei mir gelebt. Die Eltern sind beide gestorben. Nein, nein. Im Abstand von zwei Jahren. Sie merkte auf. „Was sagen Sie da?“ Dann horchte sie schier endlos lange still in den Hörer hinein, bis sie sich mit leisem „Danke.“ und „Auf Wiederhören.“ verabschiedete.

 

Sie hängte ein und sank auf den Stuhl neben dem Stehpult. Holte tief Luft: „Das war ein Polizist. Aus Strassburg. Sie ist verschwunden. Wieso war sie in Strassburg? Sie wollte doch noch in Paris bleiben. Sie wurden überfallen. Ihn hat man schwer verletzt in einem Hinterhof gefunden und ins Spital gebracht. Er wird überleben. Der Polizist nimmt an, dass er der Mann ist, von dem sie geschrieben hat. Doch sie ist verschwunden. Nur ihre Tasche lag noch da. Und bei ihm weiss man nicht, wer er ist“.

 

Ich sah sie entgeistert an. Sie nahm mich fest in den Blick: „Es tut mir leid. Ich wollte es ihr überlassen, es dir zu sagen. Ich weiss doch, wie sehr du sie magst.“

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